Keith Jarrett: Verschollen geglaubter Flügel des Erfolgsalbums „The Köln Concert“ gefunden - WELT (2025)

Vor 50 Jahren nahm der Pianist Keith Jarrett „The Köln Concert“ auf, eines der meistverkauften Jazz-Alben aller Zeiten. Angeblich ließ er sich vom Pausengong inspirieren – und der Flügel soll schrottreif gewesen sein. Doch sind das nur Legenden? Eine überraschende Entdeckung in Köln gibt Aufschluss.

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Es muss pure Verzweiflung gewesen sein, die an diesem Nachmittag an den Nerven der jungen Konzertveranstalterin zerrte. Der von ihr gebuchte Saal war ausverkauft. Doch der Pianist Keith Jarrett, den sie engagiert hatte, saß im Auto und wollte abfahren. Also rannte sie zu ihm, riss die Autotür auf und redete auf ihn ein. Wobei: Besonders viel habe sie nicht gesagt, erzählt Vera Brandes heute, „mein Englisch war ja nicht so gut“. In ihrer Not habe sie kurzerhand auf ein paar Plattitüden zurückgegriffen, die sie bei Begegnungen mit dem Jazztrompeter und Bandleader Miles Davis aufgeschnappt hatte, der für seine rotzigen Ansprachen an seine Musiker berüchtigt war. Die 18-Jährige, damals noch Schülerin, flehte also den knapp 30 Jahre alten Jarrett an: „Keith, if you don’t play tonight, I’m gonna be truly fucked. And I know you’re gonna be truly fucked too.“

Auf Deutsch müsste man die Ansprache wohl so übersetzen: „Wenn du nicht spielst, bin ich echt am Arsch. Und du bist dann genauso am Arsch.“ Heute, sagt Brandes, komme es ihr so vor, als habe Jarrett bemerkt, dass diese panische Jugendliche, die da vor ihm stand, auf etwas unpassende Weise versuchte, den ruppigen Miles-Davis-Tonfall zu imitieren. Und wie in einem Spiel habe er im selben Slang leise und langsam geantwortet: „Okay, I’ll play. But never forget – just for you!“ Also gut, ich spiele. Aber vergiss niemals: Ich mach’ das nur deinetwegen!

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Diese Episode ereignete sich vor 50 Jahren, am 24. Januar 1975. Jarrett stieg nach dem Wortwechsel mit Vera Brandes wieder aus dem Auto. Und einige Stunden später, gegen 23.30 Uhr, spielte er in der Kölner Oper die ersten Töne seines Konzerts, obwohl die Umstände in der Tat misslich waren. Der Musiker war nach stundenlanger Fahrt aus der Schweiz in Köln angekommen – auf dem Beifahrersitz im Renault R4 seines Produzenten Manfred Eicher. Jarrett war übermüdet, litt unter Rückenschmerzen und hatte schlecht gegessen. Das größte Problem war allerdings der Flügel, den man für ihn bereitgestellt hatte – und um den sich bis heute zahlreiche Legenden ranken. Davon wird später noch die Rede sein.

Keith Jarrett: Verschollen geglaubter Flügel des Erfolgsalbums „The Köln Concert“ gefunden - WELT (1)

Der Mitschnitt des Konzerts erschien hinterher als „The Köln Concert“ auf zwei Schallplatten. Es sollte das meistverkaufte Jazz-Soloalbum und Klavier-Soloalbum aller Zeiten werden. Mehr als vier Millionen Exemplare wurden bis heute abgesetzt – auf Vinyl, Kassette, CD. In den frühen 80er-Jahren gehörte das Cover mit dem schlichten Schwarz-Weiß-Foto zur Grundausstattung aller Wohngemeinschaften und Studentenbuden – so wie die Porträtposter von Che Guevara oder Frank Zappa. Kein anderes Album eines Jazzmusikers ist so oft von Nicht-Jazzfans gehört worden wie „The Köln Concert“.

Der Hype ebbte über die Jahre auch nicht ab, sondern steigerte sich noch. Jarretts freie Improvisationen, in denen sich Passagen meditativer Ruhe und monotoner Wiederholung mit ekstatischen Ausbrüchen und wilden Tonkaskaden abwechseln, haben schon als Soundtrack für Ballett und Film gedient. Schriftsteller haben sich darüber ausgelassen. Vor einigen Jahren erschien eine Transkription von TKC, wie Eingeweihte das Album nennen, sodass auch Pianisten, die nichts von Improvisation verstehen, das einst aus dem Stegreif entstandene Werk Note für Note nachspielen können. Und in diesem Jahr erscheinen gleich zwei Filme, die sich mit dem Phänomen Köln Concert und seiner Entstehungsgeschichte beschäftigen.

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Bei so viel Ruhm ist es verwunderlich, dass sowohl der Künstler als auch sein Produzent Manfred Eicher vom Münchner Plattenlabel ECM schmallippig reagieren, wenn sie zu Details des Konzerts befragt werden. Jarretts Biograf Wolfgang Sandner hat berichtet, der Pianist habe eine Zeit lang den Kontakt zu ihm abgebrochen, weil er, Sandner, die Auffassung vertrat, dass dieses Album zu Jarretts wichtigsten Werken zähle. Jarrett selbst, der in diesem Jahr 80 wird und seit einem Schlaganfall nicht mehr auftreten kann, scheint es bestenfalls für durchschnittlich zu halten. Kenner vermuten, die Aufnahme werde seinem ausgeprägten Perfektionismus nicht gerecht. Vor Jahren speiste er einen Interviewer mit dem Satz ab, es wäre besser gewesen, das Album einzustampfen. Thema beendet.

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Nicht viel auskunftsfreudiger gibt sich Manfred Eicher. Auf eine vor etlichen Wochen gestellte Anfrage von WELT AM SONNTAG hat der 81 Jahre alte ECM-Chef zwar in Aussicht gestellt, eventuell ein Vorgespräch zu einem Gespräch führen zu wollen – allerdings erst nach dem 50-Jahr-Termin und unter dem Vorbehalt, nach diesem Vorgespräch vielleicht doch kein Interview geben zu wollen. Ziemlich viele Einschränkungen, wenn man bedenkt, dass es darum geht, das Jubiläum der kommerziell erfolgreichsten Produktion seines Labels zu feiern.

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Die einzige unmittelbar beteiligte Zeitzeugin, die bereitwillig und gut gelaunt Auskunft gibt über das, was sich am 24. Januar 1975 zutrug, ist Vera Brandes, die Veranstalterin. Sie hat nach dem Konzert nie wieder mit Manfred Eicher gesprochen. Eine Begegnung mit Keith Jarrett, den sie 2016 nach einem Konzert in Wien in seiner Künstlergarderobe besuchte, sei „leider unglücklich“ verlaufen. Brandes hat übrigens keinen Cent an diesem Album verdient, obwohl die Verträge und das Urheberrecht eigentlich keinen Zweifel daran lassen, dass vor Veröffentlichung des Mitschnitts ihre Einwilligung hätte eingeholt werden müssen.

Es gab vermutlich Phasen in ihrem Leben, in denen Brandes sich deswegen geärgert hat, sprechen will sie darüber nicht. Sie scheint sich vorgenommen zu haben, großmütig darüber hinwegzugehen. Immerhin, späte Genugtuung für sie: Im Februar feiert bei der Berlinale der Kinofilm „Köln 75“ Premiere, der die Geschichte des Konzerts aus der Perspektive dieser erstaunlichen Schülerin erzählt, die es mit 18 Jahren fertigbrachte, sich in der Männerwelt dieser Branche zu behaupten – und mit ihrer Durchsetzungskraft dafür zu sorgen, dass dieses Konzert trotz widriger Umstände eben doch noch stattfand. Während der Dreharbeiten trug der Film den schönen Arbeitstitel „The Girl from Cologne“.

„Da dachte mir: Das mach’ ich besser selber“

Brandes, geboren 1956, ist die Enkelin einer erfolgreichen Unternehmerin, die als erste autofahrende Frau der Stadt in die Kölner Geschichte einging. „In unserer Familie war man es gewohnt, dass Frauen die Ansagen machten“, sagt sie. Über die andere Großmutter kam sie in Kontakt mit dem Jazzpublizisten Manfred Miller. Durch ihn und seine Frau lernte sie die Musik und die Szene kennen, sie reiste mit den beiden zu den Berliner Jazztagen, ausgestattet mit einem Backstage-Ausweis. Das sei ihre Initiation gewesen, erzählt sie: „Wenn du bei einem Miles-Davis-Konzert quasi zwischen den Musikern sitzt und erlebst, wie diese Musik entsteht, dann prägt dich das fürs Leben.“ Diese „kreative Explosion“ habe sich auf sie übertragen. „Und eine Weile wollte ich nichts anderes als Jazz-Sängerin werden.“

Es kam anders. Der englische Saxofonist Ronnie Scott, den sie in Berlin kennengelernt hatte, legte ihr nahe, sich erst einmal mit den Härten der Branche vertraut zu machen. Nicht ohne Hintergedanken: Er brauchte für eine Tour noch Termine und bat sie, ein paar Clubs klarzumachen. Vera Brandes legte los. Dann beauftragte sie der Jazz-Gitarrist Ralph Towner, ihre Kölner Kontakte zu nutzen, weil er dort mit seiner Band Oregon auftreten wollte. Doch die Vorbereitungen des Veranstalters liefen schleppend. „Da dachte mir: Das mach’ ich besser selber“, erzählt sie. Dieses Konzert im Frühjahr 1974 wurde zum Auftakt ihrer Reihe „New Jazz in Cologne“. Es kamen 800 Besucher.

„Und dann habe ich halt weitergemacht“, sagt Brandes lapidar. Sie hatte nun den Ruf, dass sie es schaffte, große Säle zu füllen – und nicht nur kleine Clubs, wie es im Jazz bis dahin üblich war. Nummer fünf ihrer Reihe sollte der Abend mit Keith Jarrett werden, den sie als Mitglied der Miles-Davis-Band in Konzerten gehört hatte. Brandes dachte, die ehrwürdige Kölner Oper mit 1400 Plätzen sei der richtige Rahmen für diesen genialischen amerikanischen Musiker, der damals in Europa mit vollständig improvisierten Solokonzerten experimentierte. Jarrett wiederum habe zuvor von einem Kollegen gehört, dass es in der Stadt einen wunderbaren Bösendorfer-Konzertflügel der Typs „Imperial“ gebe. Den wollte er für seinen Auftritt haben. So berichtet Brandes.

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Damit nahm das Drama seinen Anfang. Denn dieser Flügel stand im Forum der Volkshochschule. „Der Verwaltungschef der Oper hatte mir aber versichert, dass es im Haus einen baugleichen Bösendorfer gebe“, erzählt Brandes. Der sollte für Jarrett bereitgestellt werden. Als der Musiker am Freitag, dem 24. Januar, nach der langen Fahrt im R4 aus der Schweiz angekommen war, ging er zusammen mit Eicher und Brandes in die Oper. „Es war stockdunkel“, berichtet Brandes. Den bereitgestellten Flügel habe man kaum erkennen können, aber auch ihr sei klar gewesen, dass es sich dabei nicht um diese Wundermaschine namens „Imperial“ handeln konnte, auch wenn Bösendorfer draufstand.

Brandes erklärt die Vorgänge so: Der „richtige“ Flügel habe gut verpackt in einem verschlossenen Gang zwischen Oper und Schauspielhaus gestanden. Deswegen konnten die Klavierträger ihn nicht finden – und holten aus einem Raum des Opernchors das nächstbeste Instrument der Marke Bösendorfer herbei. Doch das sei ein kleiner sogenannter Stutzflügel gewesen, der obendrein alt und in desolatem Zustand gewesen sei. Jarrett war fassungslos; Eicher gab Vera Brandes zu verstehen, dass es auf diesem Instrument kein Konzert geben werde. Und die 18-Jährige fing an, hektisch sämtliche Telefonnummern abzuklappern, unter denen sie sich Hilfe versprach. Niemand wusste, wo der Flügel zu finden sei.

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Schließlich bekam sie die Einwilligung vom Chef der Volkshochschule, dort jenen angepriesenen „Imperial“ abzuholen. „Doch es war Freitagnachmittag, ich konnte weit und breit keinen Klaviertransport auftreiben.“ Sie fing an, Schulfreunde zusammenzutrommeln, um das Monstrum mit 2,90 Meter Länge und gut einer halben Tonne Gewicht auf eigene Faust über den Kölner Neumarkt zu schleppen. Inzwischen hatte in Köln Schneeregen eingesetzt, die Straßen wurden glatt. Der Klavierstimmer, der wie vereinbart eingetroffen war, riet ihr dringend ab. Wenn sie das kostbare Instrument (Neupreis heute: 230.000 Euro) und damit ihre Existenz nicht ruinieren wolle, dann solle sie die Aktion abblasen. Brandes erinnert sich nicht an den Namen des Stimmers, aber sie ist ihm bis heute dankbar. Nicht nur für seinen guten Rat. Er und sein Sohn hätten es in stundenlanger Arbeit geschafft, sagt sie, das fälschlicherweise bereitgestellte Wrack, bei dem Tasten klemmten und Pedale quietschten, rechtzeitig zum Konzert spielbar zu machen. Eine Leistung, die einem Wunder gleichkomme.

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Aber ist ein solches Wunder wirklich möglich? Diese Frage treibt seit Jahren den französischen Filmemacher und Jarrett-Fan Vincent Duceau um, der in diesem Frühjahr einen Dokumentarfilm über das Köln Concert herausbringen will. Duceau hat alte Fotos des Flügels gefunden – und sich damit an die Firma Bösendorfer in Wien gewandt. Dort vermittelte man ihn an Ferdinand Bräu, der seit 46 Jahren bei Bösendorfer arbeitet und als Stimmer und Konzerttechniker bedeutenden Tastenkünstlern wie Martha Argerich, Alfred Brendel, Herbie Hancock oder Oscar Peterson zur Seite stand. Er weiß also, was es bedeutet, ein Instrument für höchste Ansprüche zu präparieren.

Im Gespräch mit WELT AM SONNTAG erzählt Bräu, dass auch er in seiner Jugend eine Platte des Köln Concerts hatte. Doch nun habe er sich noch einmal intensiv mit der Aufnahme beschäftigt. Man könne alles in allem einen Flügel in gutem Zustand hören, sagt er. „Selbst zum Ende des Konzerts hält er die Stimmung noch sehr gut.“ Der relativ scharfe Klang ergebe sich daraus, dass die Mikrofone vermutlich dicht am Instrument gestanden hätten und die Filze der Hammerköpfe „knackig intoniert“ worden seien, wie bei früheren Jazzkonzerten üblich. Dass es sich dabei um einen schwerwiegend beschädigten Miniflügel handeln könnte, den man in wenigen Stunden wieder flott gemacht habe, schließt er aus. Das würde man hören, sagt er. Keith Jarrett sei zwar ein genialer Pianist, „aber zaubern kann wohl auch er nicht“.

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Bestätigt sieht sich Bräu durch die Fotos, die ihm der Filmemacher Duceau zugeschickt hatte. „Anhand der Streben des gusseisernen Rahmens können wir zweifelsfrei erkennen, dass es sich um ein Modell handelt, das wir bei uns im Haus einen Halbkonzertflügel nennen.“ Mit einer Länge von 2,25 Meter liege der zwar deutlich unter dem „Imperial“, aber auch dieser 225er verfüge über ein beachtliches Volumen und ausgezeichnete Bässe. Duceau ging nach den Gesprächen mit Bräu im Kölner Opernhaus auf die Suche – und fand einen 225er Bösendorfer mit der eingebrannten Seriennummer 28.952. „Anhand der Bücher konnten wir feststellen, dass wir genau dieses Instrument im Februar 1969 an den Kölner Bösendorfer-Händler ausgeliefert haben“, erzählt Bräu. Demnach wäre der Flügel, auf dem Jarrett spielte, erst sechs Jahre alt gewesen.

Hat sich Vera Brandes in der ganzen Aufregung also geirrt? Wurde der alte, beschädigte Stutzflügel, den die drei bei der ersten Begutachtung sahen, später gegen ein immerhin passables Konzertinstrument getauscht, ohne dass Brandes das mitbekam, weil sie zur selben Zeit hektisch versuchte, den von Jarrett gewünschten „Imperial“ aus der Volkshochschule herbeizuschaffen? So lange Jarrett oder Eicher nichts Neues zu diesem Fall beitragen, wird sich diese Frage wohl kaum abschließend klären lassen.

Sicher ist für Ferdinand Bräu allerdings, dass es höchste Zeit sei, mit einigen Legenden aufzuräumen. „Es wird ja so viel Unsinn über dieses Konzert verzapft“, sagt er. Zum Beispiel, dass auf der Aufnahme klappernde Pedale zu hören seien. „Was man lediglich hören kann, ist, dass Keith Jarrett mit den Füßen auf die Pedale schlägt und sie wie ein Perkussionsinstrument benutzt.“ Auch wird immer wieder behauptet, er habe sich auf Töne der Mittellage beschränken müssen, weil die Tastatur in den oberen und unteren Oktaven nicht in Ordnung gewesen sei. Nichts dergleichen kann Bräu feststellen. Damit wäre aber zugleich die hübsche Interpretation perdu, mit der viele Musikkritiker, Jarrett-Biograf Sandner eingeschlossen, immer wieder versucht haben, den ungeheuren Erfolg des Konzerts zu erklären: Jarrett habe wegen der Mängel des Instruments sein Spiel vereinfachen und verdichten müssen, so heißt es – und gerade dadurch sei das Konzert zu etwas Besonderem geworden, zu etwas Einzigartigem, das sich wesentlich von seinen vielen anderen Aufnahmen unterscheide.

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Oft ist gesagt und geschrieben worden, der Flügel, der in die Jazzgeschichte eingegangen ist, sei irgendwann verkauft oder gar verschrottet worden. Auch dies ist wahrscheinlich ein Irrtum. Der Bösendorfer-Flügel mit der Nummer 28.952 steht jedenfalls in einem nach Köln-Hürth ausgelagerten Übungsraum der Oper. Derzeit probt dort das „Divertissmentchen“, das traditionelle Karnevalsballett des Kölner Männergesangsvereins. Das Instrument, auf dem dazu die Begleitmusik geklimpert wird, ist nach jahrzehntelangem Einsatz im Opernbetrieb nun tatsächlich ziemlich ramponiert – und hätte auch ohne seine glorreiche Vergangenheit längst eine Generalüberholung verdient.

Ach ja, dann ist da noch die Geschichte mit der Tonfolge, mit der Jarrett sein Konzert begann. Hartnäckig hält sich das Gerücht, er habe den Pausengong imitiert, mit dem das Publikum aus dem Foyer in den Saal gerufen wurde. Sämtliche Techniker der Kölner Oper beteuern aber, dass es einen solchen Gong nie gegeben habe, sondern nur eine simple Klingel. Doch wer genau hinhört, findet in diesem tastenden Anfang dieselben Töne, mit denen das Glockenspiel des 4711-Hauses gegenüber der Oper zu jeder vollen Stunde das Lied vom „Treuen Husar“ beendet, allerdings in ein melancholisches Moll gewendet. Diente Jarrett also ein Karnevalslied als Inspiration? So lange er selbst über die Geschehnisse im Januar 1975 schweigt, ist das freilich nur eine neue Legende.

Andreas Fasel ist NRW-Redakteur bei WELT / WELT AM SONNTAG. Das Köln Concert und die Musik von Keith Jarrett faszinieren ihn schon seit seiner Jugend.

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